Constanze Rémi
In vielen Bereichen des Lebens war und ist der Mann das Maß aller Dinge.
Teils wird natürlich schon sehr lange auf die Unterschiede eingegangen, in der Modewelt beispielsweise. Allerdings findet die Erkenntnis, dass es nicht nur eine Norm gibt, jedoch – wenn überhaupt – erst seit ein paar Jahren zumindest ein wenig Aufmerksamkeit, so auch bei den Crash-Test-Dummys in der Autoindustrie. Diese sind meist auf einen „50-Perzentil-Mann“ genormt, an dessen Maße Sicherheitstechnik wie Airbags angepasst werden. Das Risiko schwerer Verletzungen bei Verkehrsunfällen ist daher bei Menschen, die von dieser Norm abweichen, erhöht – naturgemäß sind das vor allem Frauen.
Gewisse Parallelen zu den Crash-Test-Dummys gibt es auch in der Medizin. Auch hier war lange der „Norm-Mann“ die Referenz (und ist es nach wie vor), beispielsweise in klinischen Studien, von denen Frauen lange Zeit ausgeschlossen bzw. in denen sie nicht im gleichen Maße repräsentiert waren wie Männer. Dass Medizin aber nicht so einfach standardisierbar ist, zeichnet sich natürlich schon seit vielen Jahren ab: In den 1980er-Jahren fiel beispielsweise auf, dass Frauen andere Herzinfarktsymptome entwickeln als Männer. Ebenfalls geläufig ist, dass Frauen und Männer Tumortherapien unterschiedlich gut vertragen. Zuletzt waren die Unterschiede in den Krankheitsverläufen von COVID-19-Erkrankten ein großes Thema – auch in der Laienpresse. Wichtige geschlechtsspezifische Unterschiede unter anderem in Epidemiologie, Pathophysiologie, im Ansprechen auf Behandlungen und bei der Prognose von Erkrankungen sind also seit Langem bekannt. Im klinischen Alltag, in den Abläufen, Therapieentscheidungen usw. spiegeln sich diese Unterschiede jedoch oft noch nicht wider.
Die geschlechtersensible Medizin vermittelt zwischen Vereinheitlichung und maximaler Individualisierung. Sie setzt ihren Fokus auf eine umfassendere Sichtweise in der Betrachtung der Geschlechter. Sie ist nicht identisch mit der personalisierten oder individualisierten medizinischen Versorgung, die in den letzten Jahren durch die biomedizinischen Fortschritte bei der Erforschung des menschlichen Genoms in den Vordergrund gerückt ist. Vielleicht sollten wir aber die grundsätzliche Bewegung in der Betrachtungsweise und Bewertung von Versorgungsoptionen nutzen, um auch der geschlechtersensiblen Medizin mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Programmatisch klingt das einfach und klar. Im klinischen Alltag bedeutet es dennoch eine gewaltige Herausforderung, die neuen Erkenntnisse der Geschlechterforschung in die Handlungsroutinen einzubeziehen und sie praktisch umzusetzen, in der Therapie ebenso wie beim Ausbilden der nächsten Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Gesundheitsdienstleisterinnen und Gesundheitsdienstleistern; doch diese Herausforderung lohnt sich: Sie eröffnet uns Chancen, Ausbildungsansätze zu modernisieren und damit letztlich die Patientenversorgung zu verbessern.
Die Evidenz auf diesem Gebiet nimmt stetig zu. Es ist höchste Zeit, dass wir dieser Beweislage nicht nur höfliche Aufmerksamkeit schenken, sondern daraus Konsequenzen für unseren klinischen Alltag ziehen. Von der Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede profitieren potenziell nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern unser ganzes Gesundheitssystem, weil Ressourcen optimaler genutzt werden können. Geschlechtersensible Medizin geht also alle Fachkräfte im Gesundheitswesen etwas an. Dieses Themenheft der Krankenhauspharmazie soll solche Anknüpfungspunkte zwischen Theorie und Praxis bieten. Die Beiträge stellen Auswirkungen von Geschlechtsunterschieden bei verschiedenen Erkrankungen vor und führen in Informationsquellen für entsprechende Daten ein.
Es ist wichtig, dass wir die Unterschiede im Blick haben!
Viel Freude und Inspiration beim Lesen wünscht Ihnen
Constanze Rémi
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