Perspektivenwechsel


Foto: privat

Viele von Ihnen kennen vermutlich die Parabel von den Blinden und dem Elefanten:

Sechs Blinde untersuchen einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Dabei befühlt der erste Blinde den Bauch: „Ein Elefant ist eine große Wand.“ Der zweite Blinde untersucht die Stoßzähne: „Ein Elefant ist wie ein großer Speer.“ Der Dritte betastet den Rüssel des Elefanten und kommt zu dem Schluss: „Ein Elefant ist wie eine Schlange.“ Der vierte Blinde befasst sich mit einem Fuß des Elefanten: „Ein Elefant ist wie ein großer Baumstamm.“ Der Fünfte untersucht ein Elefantenohr: „Ein Elefant ist wie ein Luftfächer.“ Der sechste Blinde hält den Schwanz des Elefanten in den Händen und meint: „Ein Elefant ist wie ein Seil mit Borsten am Ende.“

Auf unserer Palliativstation versorgen wir im Jahr ungefähr 300 Patient:innen. Hinzu kommen dann noch fast 2000 bei unseren spezialisierten ambulanten Palliativversorgungsteams, auf anderen Stationen des Klinikums über den Palliativdienst und in unserer Ambulanz. Die Palliativversorgung ist ein Querschnittsfach und so umfasst das Behandlungsspektrum neben den onkologischen Erkrankungen auch verschiedenste weitere Erkrankungen, beispielsweise neurologische oder internistische – sowohl mit langer Erkrankungsgeschichte als auch nach akuten Ereignissen wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten. Die Palliativmedizin ist jedoch auch ein Querschnittsfach bezogen auf Alter, Abstammung, sozialen Status und viele weitere Aspekte. Wir betreuen Menschen, die ganz alleine sind, solche mit fürsorglichen Angehörigen und harmonischen Beziehungsverhältnissen, aber auch Menschen in Familienkonstellationen, die einem schlechten Hollywoodfilm gleichen. Die Versorgung und Versorgungsplanung ist dabei nie gleich, die Schicksale sehr unterschiedlich. Manche davon begleiten mich gedanklich über Jahre, andere nur bis zur Zimmertür.

Als ich angefangen habe, in der Palliativversorgung zu arbeiten, musste ich mich – wie sicherlich auch für jedes andere Fachgebiet notwendig – erstmal fachlich einfinden. Ein wichtiger Bestandteil davon war, neben den pharmazeutischen Aspekten, auch ein Gefühl für die Perspektiven der anderen Berufsgruppen zu bekommen. Ohne meinen Beitrag schmälern zu wollen erlebe ich dabei nicht selten Situationen, in denen ich sehr dankbar bin, dass ich als Apothekerin nicht die letztendliche Entscheidung treffen muss. Dass ich nicht diejenige bin, die schlechte Nachrichten überbringen muss. Dass ich nicht diejenige bin, die herausfordernde Wunden versorgen muss, oder diejenige, die nachts mit der Verzweiflung oder dem großen Leid von Patient:innen bzw. Angehörigen konfrontiert ist.

Auch wenn ich nicht als Ärztin, Pflegekraft, Sozialarbeiterin oder Psychologin arbeite, finde ich es für meine Arbeit essenziell, Verständnis für die jeweilige berufliche Perspektive aufzubringen. Nur durch das Zusammentragen dieser verschiedenen beruflichen Perspektiven kann es uns gelingen, unseren Patient:innen die bestmögliche Behandlung anzubieten. Hinzu kommt dann natürlich immer noch die Patient:innenperspektive, die alle Überlegungen auch wieder zunichtemachen kann. Aber auch das gilt es zu respektieren sowie ggf. auch Entscheidungen, die ich für mich selbst so nicht treffen würde, auszuhalten.

Um besser zu verstehen, was die Aufgaben der anderen sind, aber auch um mir deutlich zu machen, wie ich mich mit meiner pharmazeutischen Expertise sinnvoll und vor allem mit Mehrwert für die Patient:innen einbringen kann, habe ich schon in Hospizen in Deutschland und England hospitiert, war auf verschiedenen Palliativstationen, bei einem Bestatter und bin immer wieder zu unseren Patient:innen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) mit nach Hause gefahren. Ich folge den Gesprächen bei den Visiten aufmerksam, um für mich relevante Informationen zu erfassen, aber auch, um die Anforderungen an die anderen Mitglieder unseres interprofessionellen Teams präsent zu haben. In berufsgruppenübergreifenden Veranstaltungen finde ich es immer spannend, welche Fragen von wem kommen – nicht nur in Bezug auf den Beruf, sondern auch hinsichtlich des Versorgungsbereichs. So wie in der Parabel braucht es häufig mehrere Blickwinkel, um das große Ganze zu verstehen.

Ein Perspektivenwechsel ist anstrengend, lehrreich, wohltuend. Auch außerhalb der Palliativmedizin oder der Pharmazie. Wenn Sie sich nicht ohnehin schon selber in solche berufliche, aber auch private (gedankliche) Perspektivenwechsel begeben, kann ich Sie nur einladen, es einfach mal zu tun. Toleranz und Respekt sind wichtige Grundpfeiler für unser Handeln – nicht nur im beruflichen Kontext. Es gibt immer verschiedene Perspektiven.

Ich wünschen Ihnen einen guten Jahresausklang.

Ihre Constanze Rémi

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