Seit kurzer Zeit verfügt das deutsche Gesundheitssystem über einen einheitlichen Medikationsplan (EMP). An der Erarbeitung waren auch Krankenhausapotheker beteiligt. Was war die Grundidee für den neuen EMP, und wer waren die Initiatoren für den EMP?
Prof. Irene Krämer: Die Initiative für den EMP ist in dem Aktionsplan des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland (Aktionsplan AMTS) von 2010–2012 zu finden. Der EMP soll als eine personenbezogene Informationsquelle zur Verbesserung der Sicherheitskultur im Umgang mit Arzneimitteln beitragen. Die Risikominimierung dient natürlich primär dem Interesse der Patienten. Die Implementierung ist aber auch im Interesse aller an der Gesundheitsversorgung mitwirkenden Einrichtungen (Arztpraxis, Krankenhaus, Apotheke, Pflegeeinrichtung, Rehabilitationseinrichtung). Hauptziel des Medikationsplans ist es, dem Patienten eine zusammenfassende Information zu allen seinen Arzneimitteln zur Verfügung zu stellen, um die Risiken der Arzneimitteltherapie zu reduzieren und die Arzneimittelcompliance zu verbessern. Gleichzeitig sollen alle am Medikationsprozess Beteiligten mit dem Medikationsplan einen Überblick über die gesamte Medikation des Patienten haben. Zur Umsetzung des Aktionsplans AMTS wurde bereits 2008 eine Koordinierungsgruppe bei der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) verantwortlich eingerichtet. Für die Umsetzung der Maßnahme „Medikationsplan“ sind viele Gruppierungen der Ärzteschaft und Apothekerschaft verantwortlich. Dazu gehören auch der Hausärzteverband, die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), die ADKA, Patientenvertreter, das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) und der Verband der Hersteller von IT-Lösungen für das Gesundheitswesen (VHitG). Es darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Ursprungsidee für Medikationspläne aus dem Krankenhaus kommt und Krankenhausapotheker die Medikationspläne bei der pharmazeutischen Betreuung der Patienten einsetzen und den Nutzen erforschen.
Der EMP führt die Interessen verschiedenster Gruppierungen zusammen. Wie verlief der formale Weg bis zur Veröffentlichung des EMP?
Im Rahmen von zwei Workshops in den Jahren 2011 und 2012 wurde zwischen Vertretern von Ärzteschaft, Apothekerschaft, staatlichen Behörden, Patienten und Softwareindustrie Übereinstimmung zu Inhalten und der technischen Lösung für einen Medikationsplan erzielt. Darauf aufbauend wurde die Spezifikation erarbeitet, die als Grundlage für die Implementierung eines einheitlichen Medikationsplan-(MP-)Moduls in Arzt-, Krankenhaus- und Apothekensoftware dienen soll. Das MP-Modul soll die grundlegenden Daten zu den Arzneimitteln aus einem aktuellen und sicheren Informationssystem, wie der ABDAMED-Datenbank, erhalten. Zur Vereinfachung der Anwendung und Verbesserung der Sicherheit und Akzeptanz ist es wichtig, dass alle Beteiligte mit demselben, einheitlichen Medikationsplan arbeiten. Der EMP muss als Unterstützung empfunden werden und darf keine zusätzliche Belastung darstellen.
Gab es Inhalte oder Merkmale, die der Apothekerschaft besonders wichtig waren?
Der Medikationsplan muss kompakt, übersichtlich und verständlich, für den Patienten einfach zu handhaben und als Schulungsunterlage und Gedächtnisstütze geeignet sein. Für den Patienten ist es wichtig, dass der Medikationsplan konkrete Anwendungshinweise enthält, wie und wann er seine Arzneimittel anwenden muss. Bei oral anzuwendenden Arzneimitteln darf der Mahlzeitenbezug nicht fehlen. Dem Patienten ist es wichtig, dass er seine Arzneimittel seiner Erkrankung oder seinen Symptomen zuordnen kann. Daher war es den Apothekern auch wichtig, dass für jedes anzuwendende Arzneimittel der Grund angegeben wird.
Den Krankenhausapothekern ist auch die Zuverlässigkeit der Anwendung sehr wichtig, weil sie aus der Implementierung von anderen elektronischen Prozessen wissen, dass neue Risiken für Medikationsfehler entstehen können.
Welche Chancen bietet der EMP speziell den Krankenhausapotheken, um den „Hochrisikoprozess Arzneimitteltherapie“ sicherer zu gestalten?
Es ist bekannt, dass Medikationsfehler insbesondere beim Übergang aus der ambulanten in die stationäre Behandlung und bei der Entlassung aus der stationären Behandlung entstehen. Dies ist u.a. auf unvollständige und fehlerhafte Informationen bei den Beteiligten, ungenügend koordinierte Verordnungen und Umstellungen zurückzuführen. Der EMP würde für die Arzneimittelanamnese bei Aufnahme in das Krankenhaus einen enormen Fortschritt darstellen. Ein aktueller Medikationsplan könnte mit dem dazugehörigen Barcode eingescannt werden und in das Krankenhausinformationssystem (KIS) übernommen werden. Durch die Verwendung der Pharmazentralnummer aus der ABDAMED-Datenbank bei der Erstellung des Medikationsplans sind die Arzneimittel eineindeutig identifiziert. Mit dem elektronischen Einlesen werden Übertragungsfehler vermieden. Im besten Fall kann die Umstellung der Medikation auf die Arzneimittelliste des Krankenhauses, elektronisch unterstützt, erfolgen. Neben dem Qualitätsgewinn bei der Datenerhebung und Bearbeitung würde auch die Effizienz der aktuell sehr zeit- und kostenintensiven Arzneimittelanamnese bedeutsam gesteigert. Das könnte dem Krankenhaus ökonomische Vorteile bringen.
Im Rahmen der Krankenhausentlassung könnte wiederum ein aktueller Medikationsplan elektronisch erstellt werden und dem Patienten in gedruckter Form im Rahmen des Entlassgesprächs überreicht und erläutert werden. Der weiterbehandelnde Arzt hat elektronischen Zugriff. Dies bedeutet unter Umständen Mehrarbeit für die im Krankenhaus Beteiligten, die aber im Interesse der Arzneimitteltherapiesicherheit geleistet werden soll. Im Falle der Wiederaufnahme ist der aktuelle Medikationsplan für das Krankenhaus auch von Vorteil.
Bei der Umsetzung werden die Kolleginnen und Kollegen auch auf die Unterstützung durch die Krankenhausverwaltungen angewiesen sein. Welchen Nutzen bietet der EMP aus der Perspektive der Krankenhausleitungen?
Der EMP dient der Risikominimierung bei der Arzneimitteltherapie. Für das Krankenhaus und die Krankenhausverwaltungen kann sich daraus ein Nutzen bei der Versicherung der Haftpflichtrisiken und der Höhe der Versicherungsprämien ergeben. Ein indirekter Nutzen ergibt sich auch bei Qualitätssicherung und dem Qualitätsbericht. Wie wir in unserer Studie zur Entlassungsmedikation zeigen konnten, erhöht der Medikationsplan (damals ausschließlich in gedruckter Form) die Zufriedenheit der Patienten und der weiterbehandelnden Ärzte. Die daraus resultierende Patienten- und Einweiserbindung sollte ebenfalls für die Krankenhausverwaltungen ein Anreiz für die Etablierung des Medikationsplans sein. Der mit der Nutzung des Medikationsplans gezeigte Wille zur verbesserten und sicheren Kommunikation stellt einen nicht zu unterschätzenden ideellen Nutzen dar.
Größter Nutznießer des EMP soll der Patient sein. Was können oder müssen Patienten selbst dazu beitragen, damit sie vom EMP profitieren?
Die Patienten sollen den gedruckten Medikationsplan bei jedem Arzt- oder Apothekenbesuch mit sich führen. Nur ein aktueller und vollständiger Medikationsplan ist ein guter Medikationsplan. Sie sollen daher die Nutzung des Medikationsplans aktiv einfordern, wenn die Initiative nicht von den Heilberuflern ausgeht. Sie sollen den Medikationsplan mit allen Leistungserbringern vertrauensvoll besprechen und den Apothekern auch bitten, die Selbstmedikation einzutragen. Sie sollen alle ihre Fragen zur Medikation offen ansprechen. Es gibt keine dummen Fragen!
Der Medikationsplan ist aber kein Selbstzweck, sondern ergibt für den Patienten den größten Nutzen, wenn er ihn umsetzt und die Arzneimittel wie im Medikationsplan angegeben anwendet. Sollten sich daraus Probleme ergeben, wie mangelnde Praktikabilität oder unerwünschte Wirkungen, kann er wiederum selbst die Initiative ergreifen und eine notwendige Konsolidierung des Medikationsplans mit den Ärzten oder Apothekern besprechen.
Welches Vorgehen würden Sie Kolleginnen und Kollegen empfehlen, die sich zur Einführung des EMP in ihren Kliniken entscheiden?
Ich empfehle, sich zu erkundigen, ob ein Projekt zur Erprobung des Medikationsplans in der Region existiert, und zu prüfen, ob es einen Zugang zu der EMP-Software gibt. Für die Ersterstellung des Medikationsplans ist man auf die entsprechende Software angewiesen. Arbeitet man mit einem Softwaresystem mit anderen Spezifikationen (integriert/nicht integriert im KIS), sind zusätzliche Eingaben erforderlich, was einen Zusatzaufwand darstellt und Übertragungsfehler provoziert. Wenn man ausschließlich mit der schriftlichen Version des Medikationsplans arbeiten möchte, ist auch der zusätzliche Zeitaufwand für die Eingaben zu bedenken. Ich empfehle, klein anzufangen und zunächst eine oder wenige Stationen einzubeziehen und das Gespräch dazu mit den Ärzten und sonstigen Beteiligten zu führen. Die Bereitschaft zur Mitwirkung und Interesse an dem EMP und AMTS müssen gegeben sein.
Welche Hindernisse sind bei der Einführung des EMP in einem Krankenhaus zu erwarten?
Ich würde in erster Linie IT-Probleme erwarten. Es muss die Hardware und Software implementiert und in das KIS integriert werden. Dafür müssen finanzielle Ressourcen und IT-Mitarbeiter gewonnen werden. Die Einführung von ATMS-IT ist, wie kürzlich im Deutschen Ärzteblatt von IT-Spezialisten dargestellt, schwieriger als gedacht. Demnach kann die unreflektierte Einführung von AMTS-IT auch große Nachteile haben. Die anschließende Nutzung erfordert Schulungen und den Idealismus der Beteiligten; noch ist der Medikationsplan eine freiwillige Leistung und es gibt allenfalls in Modellprojekten eine Aufwandsentschädigung für die Nutzung.
Der EMP dürfte auch neue Aktivitäten an den Schnittstellen ambulant/stationär und stationär/ambulant zur Folge haben. Welche Pflichten, aber auch Chancen sehen Sie diesbezüglich für die Krankenhausapotheker?
Viele Krankenhausapotheker beteiligen sich bereits an der Arzneimittelanamnese bei der Aufnahme der Patienten in das Krankenhaus und der Gestaltung der Entlassungsmedikation. Für diese ergibt sich die Chance einer Fortentwicklung und Professionalisierung mit der Nutzung des EMP. Ich sehe für die Leiter der Krankenhausapotheken die Pflicht, die Bedeutung des EMP gegenüber den Entscheidungsträgern darzustellen und die Schaffung von organisatorischen und technischen Voraussetzungen zu fördern. Für viele, insbesondere junge Krankenhausapothekerkollegen mit großem Interesse an der patientenorientierten Pharmazie sehe ich die Chance die pharmazeutische Arzneimittelanamnese und die pharmazeutische Betreuung bei der Entlassung zu übernehmen. Man befindet sich damit an der Spitze der Entwicklung und hat wunderbare Gestaltungsmöglichkeiten. Man braucht aber auch Mut und Ausdauer und muss Rückschläge und Unwägbarkeiten einkalkulieren.
Wie geht es weiter mit dem EMP? Er liegt jetzt in der „Version 2.0“ vor. Ist eine Weiterentwicklung geplant?
Die AMTS-Arbeitsgruppe erachtet es für erforderlich, dass die Machbarkeit und Akzeptanz des EMP in wissenschaftlichen Projekten in der ambulanten und stationären Praxis in elektronischer und Papierform erprobt wird. Dazu fand kürzlich eine Projektausschreibung auf Basis des Aktionsplans 2013–2015 durch das BMG statt. Mit der Fördermaßnahme beabsichtigt das BMG, Modellregionen zu fördern, in denen der EMP hinsichtlich seiner Umsetzbarkeit im Versorgungsalltag geprüft wird. Die Ergebnisse der Modellprojekte werden Grundlage für die Weiterentwicklung sein. Die Modellprojekte sollen auch zur Vorbereitung der Nutzung des EMP als Teil der elektronischen Gesundheitskarte dienen. Deshalb ist die Migrationsfähigkeit in die geplante Telematikinfrastruktur zu berücksichtigen.
Interessanterweise könnte der EMP auch im Zusammenhang mit der Rezeptausstellung in naher Zukunft eine Rolle spielen. Es gibt den Vorschlag, auf die verpflichtende Dosierungsangabe auf den Rezepten zu verzichten, wenn eine schriftliche Dosierungsanweisung des Arztes in Form des Medikationsplans vorliegt. Dabei kann es sich meines Erachtens nur um den EMP und nicht um Einzellösungen handeln. Sollte dieser Vorschlag zum Tragen kommen, würde kein Weg an der Implementierung des EMP vorbeiführen.
Prof. Dr. Irene Krämer, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Langenbeckstraße 1, 55131 Mainz
Dr. Matthias Fellhauer, Apotheke der Schwarzwald-Baar-Klinikum Villingen-Schwenningen GmbH, Klinikstraße 11, 78052 Villingen-Schwenningen
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