Delir unter anticholinerger Medikation

Anamnese

Ein 85-jähriger Patient wird mit starker Verwirrtheit in die Klinik eingeliefert. Seit ca. zwei Jahren werden von den Angehörigen zunehmende Gedächtnisstörungen bemerkt. Zudem zeigt er eine Gangunsicherheit und klagt über Schwindel mit ungeklärter Ursache. Er leidet an Harn- und Dranginkontinenz sowie weiteren Vorerkrankungen wie arterieller Hypertonie. Im weiteren stationären Verlauf stürzt der Patient außerdem mehrfach.

Medikation

WirkstoffStärkeDarreichungsformEinnahmeschemaEinheitGrund
Acetylsalicylsäure100 mgTAB1-0-0mgTransitorisch ischämische Attacke
Torasemid10 mgTAB1-0-0mgArterielle Hypertonie
Solifenacin5 mgFTA1-0-1mgHarninkontinenz
Cinnarizin/Dimenhydrinat20/40 mgTAB1-0-1mgSchwindel

Diagnose

  • Akute Verwirrtheit (Delir) und vermehrte Sturzneigung unter anticholinerger Medikation, Differentialdiagnose: Delir bei zugrundeliegender beginnender demenzieller Entwicklung
  • Akute prärenale Nierenschädigung infolge einer Exsikkose, am ehesten bedingt durch eine verminderte Flüssigkeitszufuhr im Rahmen des Delirs

Therapie und weitere Diagnostik

  • Volumengabe
  • Ausschluss weiterer Delirursachen (z. B. Infekt oder Elektrolytverschiebung) und Sturzursachen sowie von Arrhythmien und QTc-Verlängerung im EKG
  • Weiterführende kognitive Abklärung mit Ausschluss eines Normaldruckhydrozephalus
  • Sturzprophylaxe: Physiotherapie, Anti-Rutsch-Socken, Rufanlage in Reichweite, festes Schuhwerk, Anpassung und Instandhaltung von Geh- und Mobilisationshilfen
  • Abklärung der Inkontinenz und Anpassung von Kontinenzförderungsmaterial mit dem Ziel einer teilkompensierten Inkontinenz 
  • Absetzen bzw. Pausieren der Gabe von Solifenacin und Cinnarizin/Dimenhydrinat

Pathomechanismus

Die Kombination zweier anticholinerger Medikamente, von denen eines auch noch eine sedierende Komponente hat, und die gleichzeitige Gabe eines Schleifendiuretikums führten in Summe zu einer allgemeinen Zustandsverschlechterung des Patienten mit einer akuten Verwirrtheit und erhöhten Sturzneigung. Die Kombination mehrerer anticholinerger Wirkstoffe kann ihre (zentralnervösen) Nebenwirkungen auf schwer vorhersehbare Weise verstärken [3, 10]. Dieser kumulative Effekt wird auch als „anticholinergic burden“ bezeichnet. Der genaue Anteil des „anticholinergic burden“ an den Beschwerden der Patienten ist aber schwer zu bestimmen, da bei vielen Betroffenen, wie auch in diesem Fall, weitere Begleitumstände vorliegen, die ebenfalls zu kognitiven Störungen und einem Delir führen können.

Solifenacin ist ein kompetitiver Muskarin-Rezeptorantagonist, der peripher besonders an M3- Rezeptoren bindet und so die Acetylcholin-vermittelte Kontraktion der Harnblase hemmt [1]. Als tertiäres Amin ist es in der Lage die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und so auch zentrale cholinerge Rezeptoren zu inhibieren. Dadurch kann es zu den zentralen anticholinergen Wirkungen oder in diesem Fall Nebenwirkungen wie Konzentrationsstörung, Gedächtnisstörung und Verwirrung kommen [2]. Im Gegensatz zu anderen Parasympatholytika wie Oxybutynin oder Darifenacin zeigt Solifenacin zwar ein günstigeres Nebenwirkungsprofil, besonders aber in Kombination mit anderen anticholinergen Wirkstoffen ist dennoch Vorsicht geboten [1, 4].

Das Kombinationspräparat aus Cinnarizin und Dimenhydrinat wird aufgrund seiner synergistischen Wirkung am vestibulären System als sogenanntes Antivertiginosum bei Schwindel verschiedener Ursachen eingesetzt [5]. Dimenhydrinat besteht aus den Wirkstoffen Diphenhydramin und 8-Chlortheophyllin und ist ein H1-Antihistaminikum mit anticholinergen und antihistaminergen Eigenschaften. Es weist entsprechend parasympatholytische und zentraldämpfende Wirkungen auf. Dabei wirkt es vor allem auf das zentralvestibuläre System, indem die neuronale Aktivität der Vestibularkerne in der Medulla oblongata direkt gesenkt wird [5]. Im Gegensatz dazu wirkt Cinnarizin hauptsächlich auf das periphervestibuläre System, indem es den Einstrom von Calciumionen in die vestibulären Sinneszellen inhibiert. So werden ebenfalls weniger Vestibularkerne aktiviert und die Ausprägung vestibulärer Reflexe bei einer Stimulation des Vestibularapparats gehemmt [5]. Durch die zentrale Dämpfung besonders durch Dimenhydrinat kann sich das Sturzrisiko erhöhen. Außerdem können anticholinerge Effekte, wie in unserem Fall die Verwirrtheit, verstärkt werden [5].

Auch das Alter des Patienten spielt eine wichtige Rolle, da besonders bei älteren Patienten aufgrund von Vorerkrankungen und abnehmender kognitiver Fähigkeiten das Risiko von anticholinergen Nebenwirkungen erhöht ist [3].

ArzneimittelACB-Score
Solifenacin3
Dimenhydrinat3

Tabelle 1. Anticholinerge Last nach ACB-Score. Die weiteren Medikamente sind nicht aufgeführt.

Wichtige Hinweise – Lessons learned

  • Ältere Patienten sind besonders anfällig für anticholinerge Nebenwirkungen [7].
  • Die anticholinerge Last kann z. B. mit dem ACB-Score ermittelt werden. Ab einem Score von 3 ist die anticholinerge Last als klinisch relevant einzustufen [8, 9]. Die anticholinergen Wirkungen können sich bei Kombination allerdings in nicht vorhersehbarer Weise verstärken [10], so dass der Score nur eine sehr grobe Einschätzung erlaubt. Kombinationen sollten deshalb, wo klinisch möglich, vermieden werden.
  • Besonders bei älteren Patienten potenziell inadäquate Medikamente prüfen und Alternativen in Betracht ziehen, z. B. anhand der PRISCUS-Liste [6].

Diesen Fall haben für Sie zusammengefasst
Julia Groß1, Prof. Harald Dormann1, Prof. Renke Maas2, Prof. Dr. Katrin Singler1, Dr. Barbara Pfistermeister1

1 Klinikum Fürth

2 Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie und Klinische Toxikologie

Quellen

  1. Fachinformation Solifemin 5 mg Filmtabletten, Stand September 2020
  2. Campbell N, et al. The cognitive impact of anticholinergics: a clinical review. Clin Interv Aging 2009;4:225–33. doi:10.2147/cia.s5358
  3. Pasina L, et al. Relation between delirium and anticholinergic drug burden in a cohort of hospitalized older patients: an observational study. Drugs Aging 2019;36:85–91. doi:10.1007/s40266-018-0612-9
  4. Rangganata E, Widia F, Rahardjo HE. Effect of antimuscarinic drugs on cognitive functions in the management of overactive bladder in elderly. Acta Med Indones 2020;52:255–63.
  5. Fachinformation Arlevert® 20 mg/40 mg Tabletten, Stand März 2024.
  6. PRISCUS 2.0-Liste für Deutschland, 2022 (zuletzt aufgerufen am 6.3.2025).
  7. Mintzer J, Burns A. Anticholinergic side-effects of drugs in elderly people. J R Soc Med 2000;93:457–62. doi:10.1177/014107680009300903
  8. Pfistermeister B, et al. Anticholinergic burden and cognitive function in a large German cohort of hospitalized geriatric patients. PLoS One 2017;12:e0171353. doi:10.1371/journal.pone.0171353
  9. Kiesel EK, Hopf YM, Drey M. An anticholinergic burden score for German prescribers: score development. BMC Geriatr 2018;18:239. doi:10.1186/s12877-018-0929-6.
  10. Taylor-Rowan M, et al. Anticholinergic burden (prognostic factor) for prediction of dementia or cognitive decline in older adults with no known cognitive syndrome. Cochrane Database Syst Rev 2021;5:CD013540. doi:10.1002/14651858.CD013540.pub2.

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